Nils

Anfang des Jahres 2024 gab die World Health Organisation (WHO) aufgrund neuester Forschungen eine Antwort auf die ausführlich diskutierte Frage, wie viel Alkohol eine unbedenkliche Menge darstelle. Nachdem die WHO-Definition von Sucht lange als Indikator für problembehafteten Umgang mit Alkohol galt, spricht sich die WHO nun vollständig für eine Abstinenz aus. Nicht Mäßigkeit ist fortan die Empfehlung, weil auch eine geringe Menge bereits Ursache für Folgekrankheiten, darunter Krebs, sind.[1] Während sich in Deutschland zur selben Zeit viele Diskussionen um die Legalisierung von Cannabis drehten, wurde diese neue Information nur unzureichend rezipiert, obwohl sie in der Agitation von Befürworter und Gegnern von Cannabis ideal als Vergleich herangezogen werden könnte. Es ließe sich argumentieren, dass beide Drogen gefährlich seien und deshalb verboten werden sollten. Im Gegenzug dazu aber auch, dass aus diesem Grund neben Alkohol auch Cannabis legal sein sollte. Es zeigt sich die von Jacques Derrida beschriebene Unmöglichkeit einer objektiven Definition von Drogen in einem Diskurs. Der Begriff wird von ethisch-politischen Normen überlagert und nimmt als Rhetorik eine diskursive Überzeugungsfunktion ein. Zwischen liberalen Naturalismus, dem Recht des Individuums auf Selbstbestimmung, dass sogar ein befreiendes Mittel sein kann und auf der anderen Seite Konventionalismus, der die Gesundheit, Produktivität und Sicherheit hervorhebt, sind legitime Argumentationen möglich. Die Ambivalenz des Begriffs sorgt für einen Stillstand oder ein aneinander vorbeireden in Debatten, da sich das diskursive Ordnungsschema nicht löst. Die lange Geschichte der Begriffe ‚Alkohol‘, ‚Sucht‘, ‚Genuss‘, ‚Abstinenz‘ oder auch ‚Mäßigkeit‘ hat eine Menge sprachlicher Altlasten erzeugt. Durch die emotionale Aufladung des Diskurses stößt allein die Thematisierung einer umfassenderen Abstinenz auf Widerstand. Vorwürfe gegen Befürworter von mehr Abstinenz beziehen sich auf übertriebener Pietismus, Spaßbefreitheit und Biederlichkeit. Ebenso wie heute, waren auch in der Vergangenheit die Trinksitten so verwoben mit positiv besetzten Praktiken, dass Abstinenten diese Vorwürfe gemacht wurden. Oftmals scheint es so, als sei eine Utopie ohne Alkohol undenkbar. Aus diesem gegebenen Anlass ist der Blick auf den historischen Versuch der Realisierung der Abstinenz-Utopie gewinnbringend.

Stellvertretend für die größte Konjunktur der Idee von Abstinenz steht die Prohibition in den Vereinigten Staaten. Doch auch in Europa stellte sich eine vernetzte Bewegung gegen die zeitgenössischen Trinksitten. Die Agitation der Aktivist:innen zielte gegen Alkoholkonsum des Individuums und bei öffentlichen Verantaltungen, wie den neu aufkommenden Fußballspielen. Der Jugend werden diese Trinksitten vorgelebt und durch Verharmlosung, Werbung und Gruppendynamiken enstehe ein regelrechter Trinkzwang, der Krankheit und Sittenverfall zur Folge hätte. Abhängig von der politischen Position der Argumentierenden, veränderte sich die Ursache und die Lösung der Alkoholfrage in der Agitation.[2] Mithilfe neuer wissenschaftlicher Praktiken untermauerte die neu popularisierte wissenschaftliche Disziplin der Sozialhygiene. Dazu hält der Historiker Hasso Spode fest, dass besonders Statistiken die ökonomische Schädlichkeit von Trinksitten beweisen sollten.[3] Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist die Idee einer „Sucht“ nach Alkohol kulturell konstruiert aber dadurch nicht weniger wirkmächtig. Alkoholismus ist ein „kulturell geschaffenes Rollenspiel, das zur Wirklichkeit wird, weil es alle für Wirklichkeit halten. […die Vorstellung], dass exzessiver Alkoholkonsum tieferliegende Probleme ausdrücke, jemand also trinkt, weil er Probleme mit sich und seiner Umwelt habe, wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung, wenn sie in unserer Kultur popularisiert wird. Sie ist damit quasi eine Handlungsanweisung.“[4] Für die Trinkenden gilt das ebenso, wie für die Gegner des Alkoholkonsums. Aus den Statistiken zogen die Aktivist:innen der Abstinenzbewegung die Handlungsanweisung, einen alternativen Lebensentwurf zu entwickeln, der dem gesellschaftlichen Problem des proklamierten Trinkzwangs entgegenstand. In Deutschland wurden von abstinenten Männern und Frauen zahlreiche alkoholfreie Sport-, Sing-, Wander- und Tanzvereine gegründet. An den Vereinsinteressen zeigt sich die enge Verknüpfung des Abstinenzdiskurses mit der Lebensreformbewegung.[5] Außerdem wurden eigens Speisehäuser gegründet, die es sich zur Aufgabe machten, sowohl Alkoholsüchtigen als auch Abstinenten ein günstiges Mittagessen anzubieten. Kurz gesagt, es bildete sich eine Subkultur um den einigenden Faktor des alkoholfreien Lebens.

Diese Subkultur hatte eigene Praktiken, Konsumwünsche und Deutungen von der Gesellschaft. Als Gegenentwurf zum etablierten Trinkzwang stand die Umsetzung einer alkoholfreien Kultur in einem Spannungsverhältnis zwischen utopisch-lebensreformerischer Moral und vermeintlich objektiver Wissenschaft.[6] Grundlage für die Bildung einer alkoholfreien Kultur war das Eingeständnis, dass Alkohol als katalysierender Faktor in einer Gesellschaft eine Rolle zukommt.[7] Zur Konsolidierung einer abstinenten Position im Diskurs war also die Anhäufung von wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Schädlichkeit nur eine Seite der Medaille. Wie für Aktivist:innen heute, gab es für die Abstinenzler im 20. Jahrhundert den Zugzwang, ihr utopisches Zukunftsideal bereits durch ein exemplarisches Leben in die Gegenwart zu holen. Aus der Sicht der Abstinenten bestand ihre Aufgabe ebenfalls darin, die Verbindung von Drogenkultur und Alltag zu entweben, ohne auf eine Art transzendenter Erfahrungen in Gruppen zu verzichten.


[1] Vgl. o.A.: Beim Alkoholkonsum gibt es keine gesundheitlich unbedenkliche Menge, online in: https://www.who.int/europe/de/news/item/28-12-2022-no-level-of-alcohol-consumption-is-safe-for-our-health, 04.01.2023, (Stand: 18.08.2024).

[2] Hier Literatur einfügen in der stand, dass die Antworten auf die Alkoholfrage sehr wandelbar waren

[3] Vgl. Spode, Hasso: Trinkkulturen in Europa. Strukturen, Transfers, Verflechtungen, in: Johannes Wienand u. Christiane Wienand (Hg.): Die kulturelle Integration Europas, Wiesbaden 2010, S. 375.

[4] Vgl. Nolte, Frank: „Sucht“ und „Nüchternheit“. Zur Kultur- und Ideengeschichte der Moderne, in: Robert Feustel (Hg.): Handbuch Drogen in sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive, Wiesbaden 2019, S. 137.

[5] Vgl. Spode, Hasso: „Extrem hoher Alkoholkonsum“. Thematisierungskonjunkturen des sozialen Problems „Alkohol“, in: Wassenberg, Karl (Hg.): Geist der Deutschen Mässigkeitsbewegung. Debatten um Alkohol und Trinken in Vergangenheit und Gegenwart, Halle (Saale) 2010, S. 200.

[6] Vgl. Ebd. S. 376.

[7] Transzendenz o.a.

Subjektivierungspraktiken der abstinenten Bewegung in Bremen um 1900